Hans Wrages Stadtlandschaften zeigen völlig unspektakuläre Motive: marode Gemäuer, bröckelnde Fassaden, ineinander verschachtelte
Häusergruppen, verfallende Zäune. Sein Blick ist "liebevoll neutral", wie Gerhard Kaufmann, der Direktor des Altonaer Museums, es
ausgedrückt hat; die Darstellung ist nicht anklagend, sondern zurückhaltend.
Die Bilder zeigen ihr Motiv reduziert auf die graphischen
Formen, die Farbe der Aquarelle und Ölbilder ist sehr
zurückhaltend und dient der Form. Jede Ansicht ist auf das
Typische zurückgeführt und wird damit – trotz ihres
topographischen Bezugs – repräsentativ für die Gattung von
Motiven:
•
Straßen in Altona und St. Pauli sehen so aus wie auf der
Zeichnung "Holstenstraße/Thedestraße" 1970 oder
"Lincolnstraße" aus dem gleichen Jahr
•
Höfe in Hamburg sehen so aus wie "Hof an der Talstraße"
1968
•
Brücken über Hauptverkehrsstraßen sehen so aus wie auf
dem hier nicht gezeigten sehr schönen Ölbild
"Stresemannstraße In Altona" 1974
Die Verallgemeinerung
läßt sich noch weiter-
führen: bevor das große
Aufräumen und Durch-
stylen der 80er und
90er Jahre begann,
sahen große Städte in
den 60er und 70er
Jahren in weiten Teilen
so aus, wie Hans Wrage
es zeichnete und malte.
Solche Ecken, Höfe, Brücken und Baulücken kenne ich aus
Berlin und aus dem Ruhrgebiet. Es ist ja das Phänomen, was
manchem als typisch hamburgisch erscheint, in Wirklichkeit nur
typisch großstädtisch ist.
Wrage zeigt die Reize des unspektakulären Alltags, er zeigt
die Wunden und Narben und Schattenseiten der Stadt, er zeigt
die Enge ihrer Hinterhöfe und die Weite ihrer Plätze. Wrage hat
den Blick und den Mut, ein Grundstück, das mangels Bebauung
als Abstellplatz eines Gebrauchtwarenhändlers dient, als
lohnendes Motiv zu entdecken und zu gestalten – und damit
etwas doch sehr Kennzeichnendes für das Stadtbild und die
Gesellschaft jener Jahre festzuhalten.
Das Motiv hat Hans Wrage sehr beschäftigt, denn in unserer Aus-
stellung ist es als Zeichnung, als Aquarell und als Ölbild vertreten.
Die Bilder Wrages zeigen also Urbanität: nicht die weltläufige,
große, glitzernde, sondern eher kleine, schillernde, manchmal
triste und melancholische. Dabei taucht immer wieder das Motiv
des Wandels auf,
konkret: des
Abreißens und
Bauens. Davon zeigt
zwar unsere Aus-
stellung nur wenig
(das Aquarell "Abriß
Ecke de-Voß-Straße
und Große Elbstraße"
1970), aber in dem
genannten Buch sind
es die Bilder
•
"Abriß der
Gaswerke"
1977,
•
"Bauwagen in der Lindenallee" 1974,
•
"Abwrackbetrieb im Freihafen" 1990.
Ich erwähne das, weil wir uns hier ja in einem Gebäude befinde,
das abgerissen werden muß. Auch ohne Lichtwarks Diktum von der
Freien und Abrißstadt bemühen zu wollen und so sehr wir Archivare
uns auf den Neubau in Wandsbek freuen – es hat ja doch etwas
trauriges, ein
modernes Archiv
nach nur 25
Jahren vor dem
Abriß zu sehen
und zu wissen,
daß es diesen
Raum in einem
Jahr nicht mehr
geben wird.
Vielleicht reizt es
Hans Wrage ja,
den Abriß, die
Ruine oder die
kurzzeitige
Baulücke ABC-
Straße 19 fest-
zuhalten. Es wäre ein historisches Dokument und würde eine
Archivalie besonderer Art.
Damit bin ich bei der versprochenen Begründung, warum wir als
historischer Verein eine Kunstausstellung zeigen- und noch dazu so
herausgehoben, wie die Umstände es verlangen: als letzte
Vereinsversammlung am bald vergangenen historischen Ort.
Die Bilder Wrage sind nicht nur unverwechselbare Kunstwerke,
sondern auch historische Quellen. Sie sind Hamburgensien ganz
besonderer, ganz anderer Art: nicht von der idyllischen,
verklärenden Sorte, sondern mit realistischem Bezug. Sie sind bei
aller künstlerischen Komposition topographisch festgemacht, sie
gleichen den Verzicht auf Details durch das Einfangen von
Atmosphäre aus.
Hans Wrage und Dr. H.W. Eckardt
Eröffnungsrede zu der Ausstellung
"Zwischen Reeperbahn und Fischmarkt"
im Staatsarchiv Hamburg von
Archivdirektor Dr. Hans Wilhelm Eckardt